Serbien und Kosovo: Wie gefährlich ist die Lage im Kosovo? (2024)

Im Nordkosovo spitzen sich die Spannungen mit Serbien zu, die Außenministerin des Kosovo warnt sogar vor Krieg. Was ist passiert – und droht jetzt ein Krim-Szenario?

Von Isabelle Daniel

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Bereits seit mehr als einem Jahr verschärfen sich die Spannungen zwischen Serbien und dem Kosovo. Bei Auseinandersetzungen zwischenKosovo-Serben und Sicherheitskräften im Mai waren auch Soldaten der Nato-geführtenKfor-Truppe verletzt worden. Zuletzt meldete die kosovarische Regierung eine beispiellose serbische Truppenkonzentration an der kosovarischen Grenze – und verwies auf Parallelen zum russischen Truppenaufmarsch vor der ukrainischen Grenze kurz vor Kriegsbeginn. Droht dem Kosovo ein ähnliches Schicksal wie der Ukraine? Wo liegen die Unterschiede? Die Antworten auf die wichtigsten Fragen zur aktuellen Eskalation

Warum ist der Konflikt zwischen Serbien und dem Kosovo erneut eskaliert?

Der schwerste Zwischenfall im serbisch-kosovarischen Verhältnis seit Jahren ereignete sich am 24. September: Einbewaffneter serbischer Kommandotrupp überfiel eine kosovarischePolizeikontrolle im Dorf Banjska nahe der nordkosovarischen Stadt Mitrovicë. Ein Polizist und dreiAngreifer wurden bei dem Vorfall getötet. Zwischenzeitlich verschanzten sich die Angreifer in einem orthodoxen Kloster.

Die kosovarische Regierung sprach von einem Terroranschlagund warf umgehend der serbischen Regierung vor, für den Angriff verantwortlichzu sein. Inzwischen hat Ministerpräsident Albin Kurti Drohnenaufnahmen präsentiert,die Mitglieder des Kommandotrupps beim Training auf serbischem Militärgelände zeigen sollen. Kosovos Außenministerin Donika Gërvalla-Schwarz sagte im Deutschlandfunk,die Menge, Art und Qualität der Waffen, die das Kommando genutzt habe, zeige,dass der Angriff nur von einem staatlichen Akteur habe geplant werden können.

Zuvor hatte sich der kosovo-serbische Politiker und GeschäftsmannMilan Radoičić dazu bekannt, für den Überfall verantwortlich zu sein. Er sprach von einer "Widerstandsmethode" und warf der kosovarischen Regierung unter Kurti vor, die Serben im Kosovo zu verfolgen, um das Land "ethnisch zu säubern". Radoičić gilt als enger Vertrauter des serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić. Sein Amt als Vizepräsident der serbischen MinderheitsparteiSrpska Lista gab er inzwischen auf.

Bei der internationalen Gemeinschaft sorgte der Vorfall in Banjska für immense Unruhe – auch im Zusammenhang mit einem von den USA gemeldeten "beispiellosen" serbischen Truppenaufmarsch nahe der kosovarischen Grenze. Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) appellierte beim EU-Außenministertreffen in Kiew erneut an Serbien, seine Truppen an der kosovarischen Grenze zu reduzieren, auch Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) rief zur Deeskalation auf. Die FDP-Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann brachte eine Aufstockung des deutschen Kontingents für die Nato-geführte Kfor-Mission im Kosovo ins Gespräch.

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Warum ist die Lage gerade im Nordkosovo so heikel?

Im Kosovo, das früher zu Serbien gehörte und neun Jahre nach dem Ende des Kosovokriegs seine Unabhängigkeit erklärte, leben hauptsächlich ethnische Albanerinnen und Albaner. Etwa 120.000 Menschen in dem kleinen Balkanland gehören der serbischen Minderheit an, die größtenteils im Nordkosovo lebt. Symbol des ethnischen Konflikts ist insbesondere die Stadt Mitrovicë, die in einen serbischsprachigen und einen albanischsprachigen Teil gespalten ist.

Die serbisch geprägten Gebieten des Nordkosovo sind für die kosovarischen Behörden schwer zu kontrollieren. Verschärft hat sich die Situation, seit sich die politischen Vertreter der serbischen Minderheit Ende des vergangenen Jahres aus sämtlichen Staatsinstitutionen zurückgezogen haben und die Bürgermeister mehrheitlich serbischer Kommunen zurückgetreten sind.

Die Kommunalwahlen im April boykottierte eine breite Mehrheit der Kosovo-Serben. Als daraufhin von einem kleinen Teil der Wahlberechtigten im Nordkosovo vor allem kosovo-albanische Bürgermeister ins Amt gewählt wurden, kam es zu Ausschreitungen, auf die die kosovarische Polizei mit Gewalt reagierte. Serbiens Präsident Vučić ließ daraufhin seine Soldaten an der kosovarischen Grenze in Alarmbereitschaft versetzen. Damals forderten die EU, die USA und die Nato das Kosovo zur Deeskalation auf.

Droht ein neuer Krieg auf dem Balkan?

Im Kosovo und auch international lösen die jüngsten Entwicklungen große Besorgnis aus. Kosovos Außenministerin Gërvalla-Schwarz forderte die internationale Gemeinschaft im Deutschlandfunk auf, Serbien Einhalt zu gebieten. "Wird man das (Vorgehen Serbiens) tolerieren, dann wird es einen Krieg auf dem Balkan geben", sagte sie.

"Im Vergleich zu den Entwicklungen der letzten Jahre und Monate ist die Situation außergewöhnlich gefährlich", sagt der Politikwissenschaftler Vedran Dzihic vom Austrian Institute for International Affairs (oiip) im Gespräch mit ZEIT ONLINE. Durch den Angriff in Banjska sei der von der EU geleitete politische Prozess zwischen Serbien und dem Kosovo "de facto gestorben – zumindest derzeit". Der Angriff selbst übersteige zudem alles, "was wir bis jetzt gesehen haben: Eine sehr gut organisierte, sehr gut trainierte und militärisch enorm ausgestattete Truppe, die einen direkten Angriff auf einen Nachbarstaat mit Todesfolge verübt, ist einmalig." Viele Fragen zu dem Vorfall blieben offen, sagt Dzihic. Aber: "Wenn es schiefgelaufen wäre, hätte der Vorfall das Potenzial gehabt, sich zu einem handfesten Krieg auszuwachsen, mit verhängnisvollen Folgen für ganz Europa."

Auf Ähnlichkeiten zum Ukraine-Krieg verwies Gërvalla-Schwarz. Es gebe ein gemeinsames Muster, sagte die Außenministerin: "Die Sprache, die Wortwahl, dieMethoden – alles gleicht dem, wie Putin in der Ukraine sich benimmt." Hinzu komme, dass Serbien in den vergangenen Jahren militärisch stark aufgerüstet habe – auch mithilfe Russlands.

Auch Kosovos Präsidentin Vjosa Osmani hatte zuletzt auf Parallelen zu Russlands Angriffskrieg in der Ukraine verwiesen und Serbien vorgeworfen, ein "Krim-Modell" für das Kosovo anzustreben. Das Kosovo werde seine Freiheit, Unabhängigkeit und Souveränität jedoch verteidigen – "um jeden Preis", sagte Osmani vergangene Woche in einem Reuters-Interview.

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Wie realistisch ist ein "Krim-Szenario"?

Mit ihrer Warnung vor einem "Krim-Modell" spielte Osmani auf die russische Besetzung und anschließende Annexion der ukrainischen Krim-Halbinsel 2014 an. Damals waren als "grüne Männchen" bezeichnete Soldaten ohne Abzeichen in die Krim einmarschiert. Ähnlichkeiten weist der Überfall auf die kosovarische Polizeipatrouille in Banjska auf: Die mit schweren Waffen ausgerüsteten Trupps waren nach kosovarischen Angaben ebenfalls mit Fahrzeugen ohne Kennzeichen eingefahren.

"Für mich ist es sehr schwer vorstellbar, dass der serbische Staat und die serbischen Geheimdienste vorab nichts von den Plänen des Kommandos gewusst haben", sagt Dzihic. Präsident Vučić sei in den vergangenen Jahren zu einem "allmächtigen Kontrolleur und Macher in Serbien" avanciert, der die "absolute Kontrolle der Gesellschaft" beanspruche.

Dzihic glaubt, dass Vučić "die in der serbisch-nationalistischen Ideologie verankerte Vorstellung von der Beherrschung zumindest eines Teils des Kosovo nicht aufgegeben hat – sei es durch die kleine Tür in Form des serbischen Gemeindeverbands, durch die der Nordkosovo de facto angeschlossen würde, oder durch die Provokation einer bewaffneten Situation, in der die serbische Armee einmarschieren muss".

Einen offenen serbischen Einmarsch hält der Politikwissenschaftler indes für unwahrscheinlich. "Die serbische Armee ist hochgerüstet und könnteden Nordkosovo wohl in 24 Stunden überrennen. Angesichts der dort stationiertenNato-Soldaten wäre das aus meiner Sicht aber politischer Selbstmord für AleksandarVučić." Es gebe aber Alternativen zum "ganz großen Krieg", sagt Dzihic. "Eine hybrideKriegsführung, ein Dazwischen-Szenario, war wohl auch mit dem Angriff auf diekosovarischen Polizisten geplant."

Politisch sieht Dzihic nur einen Gewinner durch den Vorgang in Banjska: Russland. Vučić dagegen habe auf "strategischem Terrain verloren". Mühsam und konsequent habe sich der serbische Präsident in den vergangenen eineinhalb Jahren darum bemüht, das Vertrauen des Westens zu gewinnen, "systematisch Albin Kurti anzuschwärzen" und auf diese Weise sogar westliche Sanktionen gegen das Kosovo zu erreichen. Dieser diplomatische Vorteil sei Vučić nun abhandengekommen.

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Was kann die internationale Gemeinschaft tun, um zu deeskalieren?

Aus Sicht der kosovarischen Regierung sollte die EU Serbiens Status als Beitrittskandidat einfrieren und sofort die Geldzahlungen an das Land stoppen. "Eine Spur zu früh" wäre diese Maßnahme aus Sicht von Politikwissenschaftler Dzihic. Sollten die westlichen Geheimdienste aber Beweise für die Mitwisser oder -täterschaft des serbischen Staates am Banjska-Überfall finden, müsse der Westen Serbien aber sanktionieren.

"In diesem Fall müsste Deutschland eine Führungsrolle in der EU einnehmen", sagt Dzihic. Beim Kosovo-Konflikt gehe es letztlich auch um die Frage der außen- und geopolitischen Handlungsfähigkeit der EU. "Es geht um Länder mit EU-Beitrittsstatus oder -Beitrittsperspektive. Wenn Europa nicht dort handlungsfähig ist, wo dann?"

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