Kosovo und Serbien: Die wichtigsten Fragen und Antworten zur Krise auf dem Westbalkan (2024)

Die Spannungen zwischen Serbien und dem Kosovo drohen zu eskalieren. Worum es in dem Konflikt geht – und welche Rolle Russland und die Nato spielen.

Von Isabelle Daniel

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Kosovo und Serbien: Die wichtigsten Fragen und Antworten zur Krise auf dem Westbalkan (1)

Noch im November hatte es Anzeichen einer Annäherung zwischen Serbien und dem Kosovo gegeben, jetzt stehen alle Zeichen auf Eskalation. Vor allem die Verstärkung der serbischen Militärpräsenz an der kosovarischen Grenze schürt die Furcht vor einem bewaffneten Konflikt. Von einem "völlig falschen Signal" spricht das Auswärtige Amt in Berlin. "So gefährlich war die Lage seit Jahren nicht mehr", sagt der Politikwissenschaftler und Westbalkanexperte VedranDžihićvom Österreichischen Institut für Internationale Politik im Gespräch mit ZEIT ONLINE. Die wichtigsten Fragen und Antworten zu dem Konflikt:

Was ist passiert?

Die Spannungen zwischen Serbien und dem Kosovo nehmen seit Tagen zu. Serbien hat die Armee in höchste Gefechtsbereitschaft versetzt, Präsident Aleksandar Vučić besuchte öffentlichkeitswirksam eine Armeekaserne in der Stadt Raška nahe der kosovarischen Grenze. In einem Instagram-Post zu dem Besuch schrieb Vučić, die serbische Armee werde alles tun, um die Serben im Kosovo zu schützen.

Vučić' Wortwahl erinnerte an die russische Rhetorik vor Beginn der Invasion in die Ukraine im Februar. Präsident Wladimir Putin hatte damals behauptet, die russischsprachige Bevölkerung in der Ukraine schützen zu wollen. Unverhohlen vor einem Krieg gewarnt hatte Anfang Dezember bereits Serbiens Regierungschefin Ana Brnabić, als sie dem kosovarischen Ministerpräsidenten Albin Kurti vorwarf, die Serben im Kosovo zu gefährden und die Region damit "an den Rand eines bewaffneten Konflikts" zu bringen.

Eine vergleichbare Eskalation habe es in dem Konflikt seit 2013 nicht gegeben, als sich die Regierungen Serbiens und des Kosovos unter EU-Vermittlung auf ein Normalisierungsabkommen geeinigt hatten, sagt PolitikwissenschaftlerDžihić. Nun aber seien die Gesprächskanäle zwischen Belgrad und Pristina offenbar verstopft, Vermittlungsversuche der USA und der EU liefen ins Leere.

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Was hat zu der Eskalation im Konflikt zwischen Serbien und dem Kosovo geführt?

Angebahnt hat sich die Eskalation seit Längerem. Ausgangspunkt war ein Streit um Autokennzeichen. Die kosovarische Regierung wollte die Angehörigen der serbischen Minderheit im Norden des Landes zwingen, ihre serbischen Nummernschilder gegen kosovarische zu tauschen, um so die volle Kontrolle über den Verkehr auf dem Staatsgebiet zu erlangen. Unter Vermittlung der Europäischen Union wurde der Streit im November beigelegt: Wohl auch mit Blick auf ihr EU-Beitrittsgesuch lenkte die kosovarische Regierung ein und verschob die Kennzeichenreform.

Doch an Ort und Stelle nahmen die Spannungen zu: Aus Protest gegen die Regierung in Pristina legten Hunderte serbische Polizisten, Richter und andere Beamte ihre Arbeit nieder. Die wichtigste Serben-Partei kündigte einen Boykott der ursprünglich auf den 18. Dezember angesetzten Kommunalwahl in den mehrheitlich serbischen Gebieten im Norden des Kosovos an.

Seit etwa zwei Wochen errichten Serben im Nordkosovo immer wieder Straßenbarrikaden auf wichtigen Landstraßen. Seit Beginn dieser Aufstände gab es in der Region überdies drei Schießereien, in deren Folge auch ein serbischer Ex-Polizist als angeblicher Rädelsführer festgenommen wurde. Präsident Vučić warf der Regierung Kurti daraufhin die gezielte Diskriminierung der serbischen Minderheit vor. Die kosovarische Regierung wiederum beschuldigte Vučić, die serbische Bevölkerung im Kosovo aufzustacheln und auf eine Destabilisierung der Lage hinzuwirken.

Inzwischen hat das Kosovo den wichtigsten Grenzübergang zu Serbien gesperrt. Ein weiterer wichtiger Grenzposten, der Übergang Merdare, wird von der serbischen Seite aus von Menschen mit Lastwagen blockiert.

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Wie gefährlich ist die jüngste Eskalation im Konflikt zwischen Serbien und dem Kosovo?

Nach Einschätzung des Politikwissenschaftlers Džihićhat der Konflikt zuletzt eine neue Qualität bekommen. Er sieht Serbien und den Kosovo in einer Art Irrgarten gefangen. "Beide Seiten glaubten zu Beginn vielleicht, dass sie wissen, wohin sie sich bewegen und mit welchem Ziel. Inzwischen sind beide Seiten aber strategisch und taktisch gefangen und drohen den Ausweg nicht mehr zu finden."

Vor allem Serbiens Präsident Vučić habe die Spannungen "hochgezüchtet", sagt Džihić. Als "beinharter Machtpragmatiker" habe Vučić den Konflikt mit dem Kosovo in den vergangenen Jahren bewusst eingesetzt, um den starken prorussischen Teil der serbischen Bevölkerung sowie das politische Rechtsaußenlager zu bespielen. "Für diese Öffentlichkeiten ist das Kosovo das Kernstück ihrer Rhetorik."

Vučić' Strategie sei dabei immer gewesen, sich als "Retter der Serben" und Garant für Stabilität herauszustellen. "Sein Ziel könnte auch jetzt sein, die Situation so weit zu eskalieren, dass er am Ende ein kleines Kompromissangebot macht, um dann Konzessionen von den USA und der EU zu bekommen", sagt Džihić. Allerdings habe sich der serbische Präsident selbst in eine heikle Lage manövriert. "Vučić hat die prorussischen Geister und das Rechtsaußenlager selbst gefördert. Jetzt sind sie stark und er kann nicht schnell umschwenken zu einem Kompromiss mit dem Westen. Selbst wenn er es wollte – es wäre für ihn innenpolitisch verhängnisvoll."

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Welchen völkerrechtlichen Status hat das Kosovo?

Das Kosovo gehörte früher zu Serbien, heute ist es größtenteils von ethnischen Albanern bewohnt. Im Norden des Landes leben etwa 50.000 ethnische Serben. Im Februar 2008 erklärte sich das Kosovo für unabhängig. Mehr als 110 Staaten, darunter Deutschland, erkennen die Republik Kosovo an. Serbien tut dies auch mehr als 20 Jahre nach dem Ende des Kosovo-Kriegs nicht. Auch Russland, China sowie fünf EU-Mitgliedsstaaten erkennen die Unabhängigkeit des Kosovos nicht an.

Seit 2012 tritt die Europäische Union als Vermittlerin im Normalisierungsdialog zwischen den Regierungen Belgrads und Pristinas auf. Die EU macht die Normalisierung der Beziehungen zwischen Serbien und dem Kosovo zur Voraussetzung für einen EU-Beitritt beider Länder. Serbien ist offiziell EU-Beitrittskandidat, das Kosovo ist als sogenannter potenzieller Beitrittskandidat eingestuft.

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Welche Rolle spielt die Nato in dem Konflikt?

Im März 1999 griff die Nato zum Schutz der albanischstämmigen Bevölkerung in den Kosovo-Krieg ein. In den darauffolgenden 79 Tagen flogen Kampfjets des Bündnisses zahlreiche Luftangriffe auf Serbien. Nach dem Ende des Kosovo-Kriegs im Juni 1999 wurde die multinationale Kosovo-Truppe (KFor) unter Leitung der Nato aufgestellt, die die Sicherheit im gesamten Kosovo garantieren soll. Derzeit sind etwa 3.400 Soldatinnen und Soldaten im Kosovo im Einsatz, darunter 70 aus Deutschland. An KFor beteiligt sind auch mehrere Staaten, die der Nato nicht angehören – darunter Österreich, die Schweiz und Armenien.

Teil der Vereinbarung von 1999 ist eine fünf Kilometer breite Pufferzone im serbisch-kosovarischen Grenzgebiet, die serbische Soldaten nur mit Erlaubnis der Nato-geführten Kosovo-Truppe betreten dürfen. Die Armeekaserne, die Vučić besuchte, liegt unweit dieser Pufferzone.

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Wie wahrscheinlich ist ein neuer Kosovo-Krieg?

"Einen groß angelegten Flächenkrieg würde ich weiterhin ausschließen", sagt Džihić. Das Kosovo stehe durch die Präsenz der KFor-Truppen de facto unter dem Schutz der Nato. "Die serbische Armee kann keinesfalls zurück auf das Gebiet des Kosovos. Es müssten schon alle Sicherungen durchbrennen, wenn die serbische Seite es jetzt mit russischer Unterstützung wagen würde, eine offensive Kriegshandlung zu vollziehen. Serbien würde sich Auge um Auge im Konflikt mit der Nato sehen. Für Vučić wäre das Selbstmord auf Raten."

Grund zur Entwarnung sieht Džihićdeshalb aber nicht: "Wenn Spannungen so stark eskalieren wie jetzt im Kosovo, dann braucht es nur einen Funken, damit die Situation unkontrollierbar wird. Nicht ausgeschlossen ist es, dass es zu bewaffneten kleineren oder mittelgroßen Zwischenfällen kommt."

Hinzu komme die destruktive russische Rolle auf dem Westbalkan: Russland habe die Propagandamaschinerie in Serbien zuletzt hochgefahren und gieße bewusst Öl ins Feuer. "Eine Eskalation des Kosovo-Konflikts würde Russland gern sehen", sagt Džihić. "Putin setzt alles daran, um eine weitere EU- und Nato-Integration des Westbalkans zu verhindern. Er will die Spannungen hochhalten, um die Ressourcen des Westens zu binden und die russischen Interessen gegen den Westen durchzusetzen. Serbien ist der zentrale Staat, über den das gespielt wird."

Russland sagte Serbien bereits Unterstützung für alle Fälle zu. "Wir haben sehr enge Beziehungen als Verbündete mit Serbien, historische und spirituelle", sagte Präsidialamtssprecher Dmitri Peskow. "Wir unterstützen Belgrad bei all seinen Maßnahmen, die ergriffen werden."

Der Westen müsse jetzt "alles daransetzen, dass es wieder zum Dialog kommt, dass beide Seiten an den Verhandlungstisch zurückkehren", sagt Džihić. Ein deutsch-französischer Vorschlag zur Gestaltung der langfristigen Beziehungen zwischen Serbien und dem Kosovo liege auf dem Tisch. "Das muss die Grundlage sein. Alles andere wäre nicht nur für Serbien und das Kosovo verhängnisvoll, sondern hätte negative Auswirkungen auf den gesamten Westbalkan. Dann würde man eine Pandorabüchse öffnen."

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